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Heteronomie oder Autonomie

Begründung von moralischen Regeln aus einer Gottesvorstellung oder der Natur?

Auch eine Begründung von moralischen Regeln aus einer Gottesvorstellung oder der Natur ist nicht einsehbar und deshalb nicht verallgemeinerbar. Denn beide Arten der Begründung sind - wie Kant sagt - heteronom (fremdgesetzgebend). Abgesehen davon, dass ein Gott nicht rational beweisbar ist, ergibt die Ableitung von Regeln aus Nicht-Menschlichem einen Zirkelschluss. Ich erfinden einen Gott und begründe mit dieser Erfindung dann wieder mein Moralgesetz, oder ich bestimme, was Natur ist, und begründe mit diesen Bestimmungen dann wieder meine Regel. Beides ist falsches Denken, weil es letztlich doch wir sind, die moralische Bestimmungen machen und nicht die Natur oder ein Gott.

Wenn moralische Regeln nicht aus der sinnlichen Erfahrung oder anderen heteronomen Instanzen ableitbar sind, dann bleibt nur die menschliche Vernunft selbst als Gesetzgeberin in moralischen Fragen. Einer solchen Moral wäre durch unser Selbst als Vernunft bestimmt. Wenn der Mensch sich selbst kraft seiner Vernunft ein Moralgesetz gibt, dann betätigt er seine Autonomie (Selbstgesetzgebung). Geht man einmal davon aus, dass ein Moralgesetz aus der Vernunft, dem Vermögen zu Ideen, das sind  nicht aus der Erfahrung gewonnene Begriffe, begründet werden kann, und wir werden unten eine solche Begründung geben, dann entsteht das umgekehrte Problem, das die empirischen Begründungen haben:

Eine empirische Begründung einer allgemeinen moralischen Regel hat das Problem, diese Regel nicht mit Notwendigkeit verallgemeinern zu können, so dass sie eingesehen werden kann; umgekehrt hat eine Vernunftmoral das Problem, dass ihre notwendige und allgemeine Geltung aus Vernunft von den empirischen Individuen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen nicht anerkannt wird, obwohl sie einsichtig ist.

Dieses Dilemma hat einen historischen Grund, der erkennbar wird, wenn man die Entstehung der Moral reflektiert.

Schema:   Zur Begründung der Moral

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Über die Entstehung der Moral

Der Begriff "Ethik" stammt von Aristoteles, der seine Schrift über die Ziele des Handelns und über die Tugenden so benannt hat. Ethik ist eine Ableitung aus Ethos, das die anerkannte Sitte, also das tatsächliche Verhalten der Menschen in der attischen Polis ausdrückt, soweit es allgemein akzeptiert war. (Heute meint "Ethos" meist eine Sammlung von Handlungsregeln, die einer Sondergruppe entspricht, etwa wenn man vom "Ethos der Mediziner" oder dem "Ethos der Handwerker" spricht.)  Da aber in der Gemeinschaft der freien Bürger (Polis) das allgemein Anerkannte auf Grund der sozialen Spannungen immer problematischer wurde, war die Philosophie seit Sokrates gezwungen, die Sitte zu reflektieren und gegen Angriffe etwa der Sophisten zu rechtfertigen. Durch die Begründung ändert sich jedoch auch das traditionell Anerkannte. Denn einsichtig für die Bürger lässt sich eine traditionelle Sitte  nur insofern rechtfertigen, als sie vor dem Denken bestehen kann. Für Sokrates ist deshalb die Vernunft der Maßstab, was in der Tradition gut ist und gepflegt werden sollte und was abgelehnt werden muss, weil es schädlich ist. 

 Neue Entwicklungen etwa die zur attischen Demokratie verlangten neue Verhaltensregeln, andere wurden dysfunktional. Ethik ist also die Reflexion und Begründung von Verhaltens- und Handlungsregeln. Der Begriff der Moral stammt von dem lateinischen "mores" ab, was ebenfalls Sitte bedeutet. Während der Begriff "Ethik" nach dem Vorbild von Aristoteles für die Wissenschaft von der Moral und Sitte steht, bezeichnet heute "Moral" die Handlungsregeln selbst. Der Begriff "Moralphilosophie" dagegen, der von Kant benutzt wird, drückt die Differenz der Moral zur bestehenden Sitte aus. Kants Moral war kontrafaktisch, um diesen philosophischen Modeausdruck zu benutzen. Deshalb wollte er der Konnotation (Nebenbedeutungen) von Ethik und Ethos entgehen.

Wir benutzen in dieser Einführung Ethik und Moralphilosophie synonym, da wir uns nicht auf die Begründung von Handlungsprinzipien beschränken, sondern diese auch mit der sozialen Wirklichkeit konfrontieren. Die Konnotation der beiden Begriffe bleibt uns dennoch bewusst.

Hundert Tausend Jahre, seit ihrem Austritt aus dem Tierreich hat die Menschheit ohne Moral gelebt. In Einklang mit sich und der Natur, wenn auch den Unbilden der Natur brutal unterworfen, brauchten die umherstreifenden Menschen keine Moral. In der steinzeitlichen Gesellschaft ist keine Moral notwendig, weil  die Handlungen der Menschen sich einfach nach dem richten, was Gewohnheit ist, das Übliche, die Herkunft, eben die bewusste oder unbewusste Tradition. In der Nachahmung der Väter und Mütter lernen die Söhne und Töchter ihr Verhalten in ihrer Sippe, ihrer Horde, ihrem Stamm zu regulieren. Das Tradierte, soweit es bewusst ist, ist das Selbstverständliche, das als natürlich Empfundene. Der Vorteil dieser Art der Handlungsregulierung: es wird keine moralische Anstrengung vom Einzelnen gefordert. Der Nachteil liegt in der Unbeweglichkeit bei wechselnden Verhältnissen. Muss sich die Verhaltensweise ändern, gerät die kleine Gesellschaft in eine Krise. An der zerfällt sie entweder oder es geht aus der Krise eine neue Art des Verhaltens hervorgeht. (Krisen verlangten oft Menschenopfer an die Götter, um die neuen Verhaltensweisen ins kollektive Bewusstsein einzusenken.)

Aborigines auf dem Kriegspfad gegen Zerstörer der Sitte

Doch das traditionelle Handeln gerät in dem historischen Moment in eine Krise und verlangt nach bewusst gesetzten Handlungsregeln (Moral), als sich die Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte teilte. Platon hat diesen Übergang in der Form eines Mythos dargestellt. Als Mythos deshalb, weil der Grund für die Moral zwar bewusst war, aber die historische Entwicklung nicht mehr bekannt.

Zuerst habe Epimetheus (der jüngere Bruder des Prometheus/Titan) die einzelnen Geschöpfe der Natur mit Kräften und Fähigkeiten ausgestattet. Als der Mensch an die Reihe kam, war jedoch sein Vorrat erschöpft. Daraufhin griff Prometheus ein und stattete den ungeschützten Menschen mit den notwendigen Kunstgriffen einschließlich des Feuermachens aus. In dieser Vorstellung reflektiert sich die anthropologische Tatsache, das der Mensch nicht mehr instinktgeleitet, sondern auf tradierte Kunstfertigkeiten angewiesen ist.

Trotz der Erfindungen, die die Menschen machten, wie Wohnung, Kleider, Beschuhung, Lagerdecken und Nahrungsmitteln, konnten sie sich der Tiere nicht erwehren, denn noch besaßen sie die politike techne (politische Tugend) nicht. "Sie versuchten also, sich zu versammeln und sich zu erretten durch Erbauung von Poleis. Wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander, weil sie eben die politische Kunst nicht hatten, so dass sie wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden." (Platon: Protagoras 322 b)  Dies änderte sich erst, als Zeus den Hermes schickte. Er teilte den Menschen die politike techne zu, so dass die Ordnung der Stadt auf dem Recht basierte. Anders als die ökonomischen technai aber wurde die politische  allen Bewohnern gleichermaßen zugeteilt. "Wenn sie aber zur Beratung über die politische Tugend gehen, wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben, oder es könnte keine Poleis geben." (Protagoras 322 e)

Wenn sich die Gesellschaft differenziert, wenn einige herausgehoben werden, sei es, dass sie als Priester oder Herrscher von der unmittelbaren körperlichen Arbeit befreit werden, sei es, dass sie sich auf den Krieg spezialisieren, auf jeden Fall aber von der Arbeit anderer leben, dann kommt es regelmäßig zu sozialen Spannungen. Die Herrschaft als kostenlose Aneignung fremder Arbeit bedarf der Gewaltmittel, um die Beherrschten zur Abgabe eines Mehrprodukts zu zwingen. (Siehe auch "Ökonomie")  Der Platonsche Mythos drückt dies aus durch die unterschiedliche Zuweisung der ökonomischen Techniken an die Menschen. Nicht nur dass soziale Unterschiede natürlich oder gottgewollt wären, sondern hier ist auch der Ursprung der Ideologie, die Reichen wären reich wegen ihrer größeren ökonomischen Leistung und nicht auf Grund der Ausbeutung der Masse der Arbeitenden. Damit die Gewalt abgebaut werden kann, damit die Gesellschaft nicht durch Bürgerkrieg auseinander fällt, muss allen Menschen die politische Tugend (Moral) zugeteilt werden. Der Stadtstaat (Polis) muss nicht nur eine Moral haben, um Arbeitende und Herrschende zu vereinen gegen äußere Feinde, sondern auch die Herrschenden untereinander. Diese waren hauptsächlich Großgrundbesitzer, die ökonomisch autark waren. Warum sollten sie sich für die Gemeinschaft der freien Bürger einsetzen, wo sie doch eigentlich niemand benötigten. Moral hatte die Aufgabe, die autarken Polisbürger zu einigen, denn nur gemeinsam konnten sie den Anwürfen benachbarter Poleis in der Absicht, ihnen das Land weg zu nehmen und sie zu versklaven, widerstehen. Moral als eine Sammlung von Handlungsregeln und Tugenden wird nach Marx zur "ideellen Existenzbedingung" des Kollektivs der Herrschenden. Ohne Moral keine Polis. Viele Funktionen, die heute der Markt übernommen hat, regelte in der Antike die Moral.

Selbst aus der Perspektive der Beherrschten, Tagelöhner, Pächter, ja Bettler und besser gestellte  Sklaven, war diese Moral teilweise einsichtsfähig. Denn die Alternative dazu, der Bürgerkrieg und der Untergang der Polis, bedeutete für sie ebenfalls den Untergang oder die Versklavung. Eine gelungene Abschaffung der Herrschaft dagegen wäre ein Rückfall in die Steinzeit, die drastische Absenkung des Kulturniveaus. Erst auf der Basis der vom Kapitalismus erzeugten Produktivkräfte ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft, die nicht das Kulturniveau absenkt, real möglich.

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Von der Notwendigkeit der Moral

Die menschliche Geschichte ist, seit es Herrschaft gibt, eine Geschichte von Kriegen, Unterdrückung, Folter, Elend und selbstproduziertem Hunger. Man stelle sich nur einmal eine Gesellschaft vor, die eine Chance hätte mit dem heutigen Wissen neu anzufangen. Sie hätte die Alternative, eine Gesellschaft der Konkurrenz, der Herrschaft und des Kampfes zu werden, welche die bisherige Geschichte bloß fortsetzte, also die Geschichte als Schlachtbank (Hegel). Oder sie gründete gesellschaftliche Verhältnisse, die auf Solidarität beruhen, in welcher der Mensch dem Menschen ein Helfer (Brecht) wäre. Die erste Gesellschaft wäre eine, in der das Recht des Stärkeren gilt, in der anderen würde die Moral menschliche Handlungen bestimmen. Dieses Denkmodell, so illusorisch es auch ist, denn wir können nicht noch einmal anfangen, verdeutlicht jedoch die Alternative in der gegenwärtigen Gesellschaft, wenn auch auf eine vertracktere Weise als der schlichte Gegensatz vermuten lässt. So sagt Kant: Entweder wir haben den Krieg aller gegen alle, mit dem Hobbes die bürgerliche Gesellschaft identifiziert, oder wir haben die anerkannte Geltung des Moralgesetzes, wenn sich dieses allgemeingültig begründen lässt. Es gibt letztlich nur die Alternative: Kritik oder Moralität (ein moralischer Zustand).

Da wir davon ausgehen, dass die Menschheit sich nicht selbst auslöschen will - was ja heute technisch möglich ist -, wird ihr im Laufe der kommenden Generationen nichts anderes übrig bleiben, als ihre Beziehungen und Handlungen auf Moral zu gründen. Ein Zustand der Moralität ist deshalb ein praktisch notwendiges Ziel der Menschheit.

Notwendig ist etwas, was nur so sein kann und nicht anders. Steht vor mir ein Baum und ich drehe mich um, dann kann der Baum evtl. nicht mehr da sein. Er könnte z.B. abgesägt sein usw. Wie für den Baum, so gilt für alle sinnlich erfahrbaren Gegenstände, also auch für menschliche Individuen, dass sie nicht notwendig sind. Notwendigkeit kommt aber den Naturgesetzen, den Gesetzen der Logik usw. zu, denen individuelle Dinge unterworfen sind. Denn diese Naturgesetze ändern sich nicht, auch wenn ich sie nicht mehr zur Kenntnis nehme. Auch Handlungen haben keine Notwendigkeit an sich, da sie von Individuen ausgehen. Wohl aber kann  bestimmten Regeln des Handelns eine Notwendigkeit zukommen, insofern sie nicht nur in dieser oder jener Situation, sondern immer gelten. Habe ich z.B. Grippe mit Fieber, dann gilt die Regel: heiße Getränke einnehmen, um zu schwitzen. Doch auch hier mag es individuell bedingte Ausnahmen geben. Ein Moralgesetz allerdings kann keine Ausnahme gestatten, es muss immer gelten, denn sonst wäre es ins Belieben des Einzelnen gestellt, es einmal zu befolgen, einmal nicht zu befolgen, es hätte keinen Wert, das friedliche Zusammenleben einer Gesellschaft oder gar der Menschheit insgesamt zu regeln. Ein Moralgesetz muss also die gleiche Dignität der Notwendigkeit haben wie ein Naturgesetz.

Nun kann ich kraft meines freien Willen sowohl gegen ein Naturgesetz wie gegen  das mit Notwendigkeit begründete Moralgesetz verstoßen. Ein Verstoß gegen das Naturgesetz lässt meine Absicht scheitern. Ein Verstoß gegen das Moralgesetz dagegen kann mir unter bestimmten Umständen sogar den Erfolg meiner Absichten einbringen. Die Notwendigkeit des Moralgesetzes ist deshalb auch keine theoretische, sondern eine praktische Notwendigkeit. Verstoße ich gegen das Moralgesetz und habe dabei Erfolg, dann zerstöre ich die menschliche Praxis, die bewusste Gestaltung der Gesellschaft. Ich schade mir zumindest indirekt selbst, auch wenn ich meine unmittelbare Absicht durchgesetzt habe. 

Der beliebige Gebrauch der Freiheit ist Willkür. Diese wird beherrscht von inneren Trieben oder den äußeren Einflüsterungen. Sie ist deshalb noch keine Freiheit, sondern diese als Widerspruch, weil viele Einflüsse einander entgegenstehen. In einer Gesellschaft, die auf bloßer Willkür beruht, schränken sich die einzelnen Mitglieder ihre Willkür derart ein, dass sie überhaupt nicht frei sind. Das Moralgesetz könnte die Willkür des einen mit der Willkür der anderen vermitteln, das Moralgesetz ist dadurch das Gesetz der Freiheit. Andererseits ist die Willkür aber die Voraussetzung der Freiheit, denn ohne Willkür, durchgängig bestimmt durch Recht und Moral gibt es ebenfalls keine Freiheit. Wir wären Marionetten unserer eigenen Kulturprodukte. 

Voraussetzung dafür, dass ein Moralgesetz aufgestellt und mit praktischer Notwendigkeit angenommen werden kann, ist seine allgemeine und notwendige Begründung.

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Die Begründung und Erklärung des Moralgesetzes

Die Menschen haben als Individuen unterschiedliche Triebe, Bedürfnisse und Interessen. Der historische Fortschritt lässt sich ablesen an der Differenzierung und Raffinierung der Bedürfnisse. Triebe sind mehr biologische, Bedürfnisse immer schon mit Bewusstsein verbundene Wünsche; Interessen sind die ins Politische übertragenen Bedürfnisse von Menschen. Sind die Interessen verschieden, dann bedarf es eines Interessenausgleichs oder einer Regel, nach der Interessenkollisionen vermieden werden können. Diese Regel darf selbst nicht mehr ein Interesse sein oder mit einem Interesse verbunden sein. Denn dies wäre widersprüchlich. Interessen sind immer partikular und ein Partikulares kann kein Grund für ein allgemeines Gesetz abgeben. (Wir reden hier, indem wir von den konkreten historischen Bedingungen abstrahieren, um die Problematik eines moralischen Gesetzes erst einmal ohne Bezug auf die kapitalistische Wirklichkeit zu erörtern.)

Das Moralgesetz kann keine inhaltliche Anweisung sein, denn diese wäre wieder mit einem Interesse verbunden. Als allgemeines kann das Moralgesetz nur formal sein. Dieser Formalismus kann nur aus der menschlichen Vernunft kommen - wie oben begründet. Formal aber ist zunächst die Forderung nach Allgemeinheit oder doch Verallgemeinerungs-Fähigkeit der einzelnen subjektiven Regeln (Maximen). Dadurch ergibt sich schon aus der Forderung der menschlichen Vernunft nach Allgemeinheit der kantische kategorische Imperativ:

"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde". (Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 51)

Eine zunächst subjektive Maxime wird durch ihre Verallgemeinerungs-Fähigkeit zum allgemeinen Gesetz. Die Maxime "Du sollst nicht lügen", die in einer besonderen Situation meine Absicht und dadurch die konkrete Handlung bestimmt, kann verallgemeinert werden, indem ich auch allen anderen Menschen unterstellen kann, dass sie sich daran halten. Eine Gesellschaft, die diese Maxime verallgemeinerte, könnte ein friedliches Zusammenleben garantieren, wenn auch sonst alles dafür Notwendige gerichtet wäre. Die Maxime "Du sollst lügen" dagegen könnte nicht verallgemeinert werden, denn sie zerstörte jegliche Art der Kommunikation und damit das Zusammenleben der Menschen.

Doch dieser Formalismus der Moralphilosophie hat einen Mangel, denn man könnte sich eine Verallgemeinerung von Maximen denken, quasi ein System von Maximen. Und ich könnte mir ein zweites System von Maximen denken, die in sich auch das Zusammenleben garantieren, aber gegen das erste System stünden. Wir hätten zwei einander widersprechende Systeme. Widersprüchliche Systeme könnten das friedliche Zusammenleben der Menschen nicht organisieren.  Deshalb braucht der kategorische Imperativ, auch nach Kant selbst, eine einschränkende Bedingung. Diese findet er in der metaphysischen (nicht empirischen) Natur des Menschen und in der pragmatischen Beziehung der Menschen untereinander. Da vernunftbegabte Wesen wie die Menschen  sich als einzige in der Natur Zwecke setzen können, sie selbst hochgradig zweckmäßig organisiert sind, muss der Mensch als Zweck an sich selbst angesehen werden. Die moralische Regel der Vernunft, das praktische Moralgesetz, lautet also:

"Vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle." (A.a.O., S. BA 74 f.)

Oben wurde schon gesagt, dass es nur ein Moralgesetz geben kann, wenn keine Widersprüche bei der Harmonisierung der Maximen auftreten sollen, deshalb ist dieser praktische Imperativ auch der oberste moralische Punkt, an dem alle anderen Regeln, Grundsätze und moralischen Gebote, die Tugenden und die Menschenrechte sich zu bewähren haben.

Die menschliche Gesellschaft ist arbeitsteilig organisiert. Wir müssen deshalb den anderen immer auch zum Mittel für unsere Bedürfnisse und Interessen machen. Aber dies ist nur erlaubt, wenn ich im anderen auch dessen Zwecke  anerkenne, also ihn nicht zum bloßen Mittel mache. Bedient mich z.B. ein Kellner, dann mache ich ihn zum Mittel für meine Bedürfnisse, Essen serviert zu bekommen. Er macht mich zugleich zum Mittel für seine Interessen, nämlich Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Indem wir uns gegenseitig zum Mittel machen, erkennen wir uns zugleich auch als Wesen mit eigenen Zwecken an. (Wenn der Kellner allerdings nur Angestellter z.B. eines Hotelbetriebs ist, verkompliziert sich die Sache - davon weiter unten.) Die Versklavung oder Tötung eines Menschen wäre der krasseste Verstoß gegen das Moralgesetz. Deshalb ist z.B.  Krieg immer unmoralisch, auch wenn er pragmatisch zu rechtfertigen wäre. 

Sich selbst als Zweck behandeln bedeutet, dass ich nicht mit mir machen darf, was ich will. Beginge ich z. B. Selbstmord, dann würde ich als Wille oder Willkür mein vernunftbegabtes Selbst ermorden, also zum bloßen Mittel machen, ja unwiederbringbar mein Selbst zerstören. Selbstmord ist also ein Verstoß gegen das Moralgesetz. Positiv bedeutet die Selbstzweckhaftigkeit die Pflicht, das ist innere Nötigung durch das Moralgesetz, alle meine Anlagen auszubilden, soweit es die sozialen Bedingungen und die eigene Energie es erlauben.

Allgemein folgt aus dem Moralgesetz in seiner Gestalt, einen Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln, die Anerkennung der Freiheit des anderen, die Gleichheit der Menschen in Hinblick auf die Moral (und das Recht) und auch die soziale Gleichheit. Denn wenn jemand auf Kosten eines anderen ohne Not lebt, dann macht er ihn zum bloßen Mittel. Aus dem praktischen Imperativ (praktisch notwendig zu befolgender Befehl), so nennt Kant diese Variante des kategorischen Imperativs, folgt auch die Solidarität der Menschen untereinander. Denn es wäre ungereimt, andere als Zweck an sich selbst anzusehen, einen z.B. in Not geratenen Menschen aber nicht helfen zu wollen. Da auch ich geholfen werden möchte, wenn ich der Hilfe bedarf, ist gegenseitige Hilfe, die keine Gegenleistung verlangt (Solidarität), eine notwendige Folgerung aus dem praktischen Imperativ.  

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Copyright © 2004 Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik        
Stand: 09. März 2008